* 45 *

45. Der Wachturm
Ratte

Nicko hatte darauf bestanden, die Maske zu tragen, denn er wollte auf keinen Fall, dass Rupert ohne ihn zum Drachenboot hinabtauchte. Jannit hatte vergeblich versucht, es ihm auszureden, da er sie nie zuvor benutzt hatte. Sie hatte diese Inspektionsmaske, wie sie sie nannte, selbst erfunden, damit sie Boote auch unter der Wasserlinie untersuchen konnte. Sie bestand aus einer ovalen, in weiches Leder eingefassten Glasscheibe, die sich eng an das Gesicht schmiegte und mit einem Lederriemen am Hinterkopf festgebunden wurde. Das Glas war dick und bruchfest. Seine dunkelgrüne Tönung behinderte die Sicht zwar etwas, aber in dem verschlammten Wasser des Burggrabens mit Brille zu tauchen war allemal besser als ohne.

Nicko war ein guter Schwimmer. Als die Jungen noch kleiner waren, hatte Silas sie oft zu einem kleinen Sandstrand gleich hinter der Einwegbrücke mitgenommen. Dort hatte Nicko schwimmen gelernt. Aber er war nie zuvor getaucht, und als er jetzt mit Rupert den schweren Kopf des Drachenbootes mühsam vom schlammigen Grund des Burggrabens hob, hatte er das Gefühl, seine Lungen würden bersten.

Endlich reckte Rupert die Daumen nach oben, und sie tauchten gemeinsam auf und brachten den Drachenkopf wieder an die Luft. Jannit wartete mit einer großen Schlinge aus Segeltuch, die sie rasch unter dem Kopf durchzog, damit er nicht wieder untertauchte.

»Gut gemacht, Jungs«, sagte sie und bettete Kopf und Hals des Drachen behutsam auf ihren einzigen Perserteppich, den sie neben dem Cut als Unterlage ausgebreitet hatte.

Jenna sah zu. Sie hatte es abgelehnt, Septimus und Feuerspei in den Zaubererturm zurück zu begleiten. Und so hatte Septimus, der ohne Navigatorin nicht fliegen wollte, den Drachen durch die Straßen geführt und überall großes Aufsehen erregt.

Jenna kniete sich neben den schlammverschmierten Kopf des Drachen und suchte nach Lebenszeichen, aber sie fand keine. Der Kopf lag reglos da, und die Augen waren fest geschlossen. Behutsam wischte sie mit dem Saum ihres Kleides den Schlamm von den goldenen Ohren und den grünen schuppigen Augenlidern. Sie sprach zu dem Drachen, wie sie es immer getan hatte, doch er gab keine Antwort. Er blieb still.

Jannit hockte sich hin und musterte den Kopf mit sachkundigem Blick. Zeichen von Beschädigungen waren nicht zu erkennen, aber wie sollte sie das beurteilen? War das ein Boot oder ein Lebewesen? Und wenn es ein Lebewesen war, konnte es unter Wasser atmen? Und wenn nicht, war es ertrunken? Oder war es von dem Donnerblitz getötet worden? Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht weiter.

»Ist er ... tot?«, flüsterte Jenna.

»Ich weiß es nicht, mein Fräulein«, antwortete Jannit, der es etwas unangenehm war, dass die Prinzessin schlammverschmiert und mit Tränen im Gesicht neben ihr kniete. »Aber wir haben ihn im Handumdrehen aus dem Wasser, wenn die Jungs die Schlinge unter dem Rumpf durchgezogen haben. Wir sehen nach, was getan werden muss, und dann tun wir es. Wir können den Rumpf so reparieren, dass er wie neu ist.«

»Aber können Sie ihn auch dazu bringen, dass er die Augen öffnet?«, fragte Jenna.

»Tja ... das kann ich nicht sagen«, antwortete Jannit, die nie ein Versprechen gab, wenn sie nicht mit Sicherheit wusste, dass sie es auch halten konnte.

Aber plötzlich wusste Jenna etwas mit Sicherheit. Sie konnte nicht sagen, woher, sie wusste es einfach – der Drache lag im Sterben, und nur Tante Zelda konnte ihn retten.

Sie stand auf. »Ich habe etwas Dringendes zu erledigen«, sagte sie. »Würden Sie bei ihm bleiben, bis ich zurück bin?«

Jannit nickte, und Jenna eilte davon. Sie rannte über die Bootswerft, dann in den feuchten Tunnel und auf der anderen Seite wieder hinaus in die sonnenüberfluteten Straßen der Burg. Sie erklomm die schmale Treppe, die zu dem Sims auf der Innenseite der Ringmauer hinaufführte, und schlug die Richtung zum Wachturm am Osttor ein. Dies war ihre letzte Chance, dachte sie, als sie auf dem breiten Sims entlanglief, ohne auf die schwindelerregende Tiefe auf der einen Seite zu achten. Der trockene Stein des Simses war ausgetreten und glatt, und ein- oder zweimal wäre sie beinahe ausgerutscht und abgestürzt. Nicht so hastig, sagte sie sich, dem Drachenboot ist nicht geholfen, wenn du dir den Hals brichst.

Die Ringmauer lief im Zickzack um die einander verschachtelten Häuser herum. Jenna hielt die Augen fest auf den Wachturm gerichtet, der sich in einiger Entfernung über der Mauer erhob und zum Wald hin blickte. Sie lief in gleichmäßigem Tempo, und bald stand sie erhitzt und aufgeregt am Fuß des Turms und schnappte nach Luft.

Sie brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und sog den Gestank mehrerer überfüllter Mülltonnen ein, die aufgereiht neben der kleinen Holztür standen, die in den Turm führte.

Ein verblasstes Schild hing an der Tür:

KUNDENSCHALTER
BOTENRATTENDIENST
AMTLICH GEPRÜFTE, ZUVERLÄSSIGE LANGSTRECKENRATTEN
ZU MIETEN DURCHGEHEND GEÖFFNET.

Unter diesem Schild hing ein viel neueres Schild:

GESCHLOSSEN

Jenna ließ sich davon nicht abschrecken. Sie drückte gegen die Holztür – und stürzte fast in einen düsteren kleinen Raum.

»Können Sie nicht lesen?«, empfing sie eine mürrische Stimme aus dem Halbdunkel.

»Auf dem Schild steht DURCHGEHEND GEÖFFNET«, erwiderte Jenna.

»Und auf dem anderen Schild steht GESCHLOSSEN«, meckerte die Stimme. »Und das gilt. Kommen Sie morgen wieder. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich wollte gerade abschließen.«

»Das ist mir gleich«, sagte Jenna. »Ich möchte eine Botenratte, und zwar sofort. Es ist dringend. Es geht um Leben und Tod.«

»Ach, das sagen alle«, erwiderte die Ratte verächtlich, ergriff eine Aktenmappe und wandte sich zum Gehen. Jenna versperrte ihr, einem schon etwas älteren und wohlbeleibten braunen Exemplar, den Weg zur Tür. Die Ratte schaute auf und erkannte erst jetzt, mit wem sie gesprochen hatte. »Oh«, entfuhr es ihr. »Ich ... äh ... ich wusste nicht, dass Sie es sind, Majestät. Bitte vielmals um Vergebung.«

»Macht nichts. Wenn Sie nur eine Nachricht überbringen.« Da Jenna nach wie vor die Tür versperrte, kehrte die Ratte an den Schreibtisch zurück, öffnete die Aktenmappe, sah eine Namensliste durch und schüttelte schließlich den Kopf.

»Euer Majestät«, sagte sie bedauernd, »ich würde nichts lieber tun, aber momentan ist leider keine Botenratte frei. Deshalb haben wir auch geschlossen. Ich könnte Ihnen frühestens morgen Vormittag eine besorgen ...«

»Morgen früh ist es zu spät«, unterbrach Jenna.

Die Ratte blickte besorgt. »Es tut mir leid, Euer Majestät. Wir haben schwierige Wochen hinter uns. Die Seuche, die unten am Abwasserkanal grassiert, hat einige meiner besten Nachwuchskräfte dahingerafft, und die Hälfte meiner Mitarbeiter hat Urlaub genommen. Außerdem sind momentan so viele Langstreckenratten im Einsatz, dass ich den Überblick verloren habe ...«

»Dann möchte ich eine Geheimratte«, sagte Jenna. »Ist Stanley frei?«

Die Ratte sah sie mit gespieltem Unverständnis an. »Geheimratte?«, fragte sie. »Tut mir sehr leid, aber damit kann ich nicht dienen.«

»Lassen Sie die Albernheiten«, fuhr Jenna die Ratte zornig an. »Und ob Sie können. Ich muss es wohl wissen.«

Die Ratte blieb stur. »Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Außerdem muss ich jetzt los, Euer Majestät. Ich könnte Ihnen morgen in aller Frühe eine Botenratte in den Palast schicken, wenn Ihnen damit geholfen ist.«

Jenna riss der Geduldsfaden. »Hören Sie«, sagte sie streng, »ich möchte eine Geheimratte, und zwar sofort. Das ist ein Befehl. Und wenn ich keine bekomme, hat es den Rattengeheimdienst die längste Zeit gegeben. Vom Botenrattendienst ganz zu schweigen. Ist das klar?«

Die Ratte schluckte und raschelte in ihren Papieren. »Ich ... ich muss nur eben einen kurzen Ruf tätigen ...«, sagte sie, lehnte sich aus einem kleinen Fenster neben dem Schreibtisch und brüllte: »Stanley! He, Stanley! Beweg deine müden Knochen her. Aber dalli!«

Augenblicke später erschien Stanley am Fenster. »Nur keine Aufregung, Humphrey. Wo brennt’s denn?«, sagte er, und als er Jenna erblickte: »Oh!«

»Dein Typ wird verlangt, Stanley. Sonderauftrag«, sagte die Ratte irgendwie entschuldigend.

»Aha«, erwiderte Stanley alles andere als begeistert.

Jenna kam gleich zur Sache. »Stanley, ich möchte, dass Sie Tante Zelda eine Nachricht von mir überbringen. Sie muss so schnell wie möglich herkommen. Sie ist meine einzige Hoffnung ...«

Stanley hob mit vertrauter Geste die Pfote. »Nein«, sagte er bestimmt.

»Was?«, fragte Jenna. Humphrey erschrak.

»Tut mir leid«, sagte Stanley und trat durch das Fenster auf den Schreibtisch. »Ich bin heute Abend unabkömmlich.«

»Aber woher denn«, widersprach Humphrey.

»Doch«, beharrte Stanley. »Dawnie hat mich zum Essen eingeladen. Ich habe erfahren, dass sie und ihre Schwester Streit hatten. Ich habe meine Lektion gelernt. Früher stand für mich immer der Beruf an erster Stelle und Dawnie an zweiter. Jetzt nicht mehr.«

»Aber ...«, protestierte Jenna.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Euer Majestät, und es tut mir sehr leid, aber heute Abend kommt Dawnie an erster Stelle, und wenn es mich meine Stellung kosten sollte. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss noch ein paar Blumen aus der Mülltonne des Blumenladens besorgen, bevor sie geleert wird.« Damit verneigte sich Stanley und marschierte hoch erhobenen Hauptes an Jenna vorbei. Verblüfft hielt sie ihm die Tür auf und sah zu, wie er von dem Sims sprang und über ein Dach verschwand.

»Tja«, entschuldigte sich Humphrey, »ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll...«

»Ich auch nicht«, erwiderte Jenna. »Er war meine letzte Hoffnung. Aber ich bin mir sowieso nicht sicher, ob Tante Zelda noch rechtzeitig hier gewesen wäre. Ich glaube nicht, dass uns noch Zeit bleibt. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Majestät«, sagte Humphrey, als Jenna leise die Tür schloss und sich auf den Weg zurück zur Werft machte.

Septimus Heap 02 - Flyte
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